Immer wieder verlangen Kandidaten, die zu einer Bundestagswahl angetreten sind, dass diese Information bei WEN WÄHLEN? gelöscht werden soll. Wir lehnen dies immer ab. Aber ist das richtig, wie ist das denn mit dem Datenschutz und dem Anrecht auf Privatsphäre? Was wiegt schwerer: Das Grundrecht in Ruhe gelassen zu werden oder die Kommunikationsgrundrechte wie Meinungs- und Informationsfreiheit?
Wesentliches Kennzeichen demokratischer Wahlen ist die Öffentlichkeit und Transparenz. Daher sind politische Wahlen in Deutschland öffentlich und können von jedem kontrolliert werden. Aber nicht nur die Wahlhandlung selbst ist öffentlich: auch die Kandidaten sind es. Bei Bundestagswahlen können daher nur solche Kandidaten gewählt werden, deren Kandidatur zuvor öffentlich bekannt gegeben wurde.
Wer als Kandidat zu einer Wahl antritt, wird aber nicht nur in öffentlichen Verzeichnissen geführt. In der Regel gibt es eine mehr oder minder ausführliche Presseberichterstattung, Interviews mit den Kandidaten, Plakate, öffentliche Veranstaltungen und so weiter. Und seit einigen Jahren gibt es eben auch Online-Plattformen wie WEN WÄHLEN?, bei denen alle Kandidaten aufgeführt sind und bei denen der Wähler die Kandidaten und Parteien vergleichen kann. Die Kandidaten können ihre Meinungen Kund tun und die Wähler können sehen, wie diese beispielsweise zum Mindestlohn stehen oder die Kandidaten aus ihrem Wahlkreis (hier zum Beispiel mein Wahlkreis Stuttgart I) vergleichen.
Manche Kandidaten möchten nach der Wahl nicht mehr aufgeführt werden. Ich habe dieses Ansinnen immer abgelehnt und werde dies auch in Zukunft tun. Manche ehemaligen Kandidaten haben mit Anwalt gedroht, ein NPDler wollte mal seine Kumpels losschicken. Ich habe den betroffenen Kandidaten immer empfohlen, sich mit ihrem Anwalt zu besprechen – und offensichtlich haben die Anwälte denen auch immer die Rechtslage erklärt: Wer für ein öffentliches Amt kandidiert, ist eine relative Person der Zeitgeschichte und muss eine Berichterstattung über diese Kandidatur dulden. Alles andere würde einer Geschichtsfälschung gleich kommen. Bei einer Berichterstattung aus seinem Privatleben würde das u.U. anders sein.
Ein Kandidat hat nun nicht (s)einen Anwalt befragt, sondern sich an den Landesdatenschutzbeauftragten gewendet. Von diesem bekam ich einen Formbrief mit Bitte um Stellungnahme, den ich wie folgt beantwortet habe:
Sehr geehrte Frau <Sachbearbeiterin>,
sehr geehrte Damen und Herren,zu Ihrem Schreiben vom 17. November 2015 bezüglich der Beschwerde des Herrn Dr. X.Y. nehme ich wie folgt Stellung:
Es ist korrekt, dass ich die Aufforderung des Beschwerdeführers, die Informationen zu seiner Kandidatur zum 17. Deutschen Bundestag aus dem Jahre 2009 von der Webseite WEN WÄHLEN? zu entfernen, abgelehnt habe.
Zum Hintergrund: WEN WÄHLEN? ist eine von mir redaktionell verantwortete und zuletzt in Zusammenarbeit mit dem Sonderforschungsbereich „Politische Ökonomie von Reformen“ der Universität Mannheim gestaltete unabhängige Online-Plattform, auf der alle Kandidaten der letzten drei Bundestagswahlen verzeichnet sind. Der Beschwerdeführer hat 2009 auf Listenplatz 11 der Landesliste Thüringen der Partei DIE LINKE für den Deutschen Bundestag kandidiert.[1] Der Beschwerdeführer will nun nicht mehr erwähnt werden. Die Landeslisten sind aber nach § 28 Abs. (3) Bundeswahlgesetz öffentlich. Ein Verschweigen der Kandidatur des Beschwerdeführers würde einer Geschichtsfälschung gleich kommen. Der Beschwerdeführer war und ist neben seiner Kandidatur zum Bundestag vielfältig in der Öffentlichkeit politisch aktiv. Beispielsweise hat er 2008 die „Jenaer Erklärung: Neonaziaufmärsche verhindern“ unterzeichnet[2] sowie sich 2015 an einer Einwohnerfragestunde des Kreistages Weimarer Land beteiligt.[3]
Der Beschwerdeführer ist also unzweifelhaft, auch abseits seiner Kandidatur zum Deutschen Bundestag im Jahre 2009, eine relative Person der Zeitgeschichte. Die vom Beschwerdeführer beanstandete Berichterstattung bezieht sich ausschließlich auf seine Kandidatur zum 17. Deutschen Bundestag. Diese Berichterstattung ist also eindeutig weder seiner Privat- noch Intimsphäre, sondern ausschließlich seiner Sozialsphäre zuzuordnen.
Als relative Person der Zeitgeschichte müsste der Beschwerdeführer nach ständiger Rechtsprechung selbst dann eine Berichterstattung über seine öffentlichen Aktivitäten dulden, wenn diese (ihm) peinlich oder unangenehm sind oder „verletzend, schockierend oder beunruhigend wirken“.[4] Die Berichterstattung bei WEN WÄHLEN? ist als journalistisch-redaktionelles sowie wissenschaftliches Angebot anzusehen, das in einer Form von Interviews die Kandidaten zur Bundestagswahl vorstellt. Damit fällt das Angebot zweifellos unter Artikel 5 Absatz 1 und 3 GG sowie Artikel 10 Absatz 2 der EMRK. Der EGMR führt dazu aus: „Die Freiheit der Meinungsäußerung ist eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft, eine der Hauptvoraussetzungen ihrer Entwicklung und der Entfaltung eines jeden Menschen.“[5]
Bei der streitgegenständlichen Berichterstattung über das Zeitgeschehen handelt es sich nicht um Angaben aus der Privat- oder Intimsphäre des Beschwerdeführers. Da es sich um einen Vergleich der zu einer öffentlichen Wahl antretenden Kandidaten handelt, liegt zweifellos eine „Debatte von allgemeinem Interesse“[6] vor. Der EGMR sieht dies insbesondere bei Politikern als gegeben an.[7]
Der Gesetzgeber hat diese Konstellation bereits beachtet: Aufgrund des Medienprivilegs nach § 41 Abssatz 1 BDSG in Verbindung mit § 12 LPResseG und § 57 RStV finden §§ 20, 35 BDSG keine Anwendung. Selbstverständlich können auch Publikationen im Internet unter das Medienprivileg fallen.[8]
Doch auch abseits des Medienprivilegs ist eine Speicherung und Veröffentlichung bzw. Übermittlung der streitgegenständlichen Informationen über den Beschwerdeführer zulässig. Nach § 29 Absatz 1 Nr. 1 und 2 BDSG ist die Datenerhebung und -Speicherung zur Übermittlung zulässig, wenn kein Grund zur Annahme besteht, dass ein schutzwürdiges Interesse des Betroffenen entgegen steht. Wie der BGH im Fall „Spickmich.de“[9] entschieden hat, können schutzwürdige Interessen des Betroffenen zwar einer Veröffentlichung der Daten entgegen stehen, der Betroffene hat allerdings „darzulegen und erforderlichenfalls zu beweisen, dass er des Schutzes bedarf. Bietet die am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichtete Abwägung keinen Grund zu der Annahme, dass die Speicherung der in Frage stehenden Daten zu dem damit verfolgten Zweck schutzwürdige Belange des Betroffenen beeinträchtigt, ist die Speicherung zulässig“.[10] Im Streitfall habe eine Abwägung zwischen dem Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und dem Recht auf Kommunikationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG zu erfolgen.[11]
Der Beschwerdeführer hat mir gegenüber keine schutzwürdigen Belange vorgetragen, schon gar keine, die den hohen Hürden des BGH im Falle „Spickmich.de“ gerecht werden. Nach der Vorgabe des BGH muss selbst eine Lehrerin, die zweifellos anders als ein Politiker bzw. Kandidat zum Deutschen Bundestag nicht im Blickfeld der allgemeinen Öffentlichkeit steht, eine Veröffentlichung persönlicher Daten auf einer Bewertungsplattform dulden. Ein offensichtliches, überwiegendes Interesse des Beschwerdeführers[12] ist nicht zu erkennen.
Alles in allem ist keinerlei begründete rechtliche Grundlage zu erkennen, anhand derer der Beschwerdeführer eine Löschung seiner personenbezogenen Daten fordern kann.
Dort, wo eine Abwägung stattzufinden hat, ist nicht erkennbar, dass diese – insbesondere im Lichte von Artikel 5, Absatz 1, Satz 1, 2. Halbsatz GG – zugunsten des Beschwerdeführers ausfallen kann.
Freundliche Grüße
Alvar Freude
Fußnoten:
[1]: vgl. beispielsweise die Informationen des Landeswahlleiters Thüringen, online verfügbar unter http://www.statistik.thueringen.de/webshop/pdf/2009/29403_2009_01.pdf oder die Information seiner Partei unter http://www.die-linke-thueringen.de/partei/organe/landesparteitag/apolda_2009/ und http://www.bodo-ramelow.de/nc/tagebuch/tagebucharchiv_apr_2008_feb_2011/detail_tb/archiv/2009/maerz/browse/2/zurueck/alte-tagebuch/artikel/[...] (gekürzt weil Person identifizierbar)
[3] vgl. http://www.weimarer-land.de/landratsamt/kreistag/niederschriften/kreistag230415.pdf
[4] Urteil des EGMR vom 7. Februar 2012, Az.: 39954/08, Rdnr. 78, zitiert nach der nichtamtlichen Übersetzung der Bundesregierung
[5] ebd.
[6] vgl. Urteil des EGMR vom 24. Juni 2004, Az.: 59320/00, Rdnr. 60
[7] ebd., Rdnr. 63
[8] vgl. Gola/Schomerus/Körffer/Klug/Gola BDSG § 41 Rn. 10a
[9] Urteil vom 23. Juni 2009, Az.: VI ZR 196/08
[10] ebd., Rdnr. 29
[11] ebd., Rdnr. 30
[12] vgl. Gola/Schomerus/Körffer/Gola/Klug BDSG § 29 Rn. 19
Eine Antwort oder Eingangsbestätigung des Landesbeauftragten für Datenschutz auf meine Antwort-E-Mail habe ich trotz entsprechender Bitte auch nach zwei Wochen nicht erhalten und daher meine Antwort noch mal per Post verschickt. Ich gehe fest davon aus, dass der Landesdatenschutzbeauftragte das Verfahren einstellt.
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