Hinweis: Das Folgende hat sich mit Schreiben des LfDI vom 16. August 2017 erledigt. Nach erneuter Bewertung des LfDI handelt es sich bei WEN WÄHLEN? um ein „standardisiertes journalistisches Konzept“, das damit nicht der Aufsicht der Behörde unterliegt. Das Verfahren wurde eingestellt, nachdem dieses Missverständnis geklärt wurde.
Wenn der Datenschutz mit Holzhammermethoden durchgesetzt werden soll und sich gegen die Meinungs- und Pressefreiheit aus Artikel 5 des Grundgesetzes stellt, sorgt dies nicht gerade für eine grundsätzich wünschenswerte Akzeptanz des Datenschutzes. Auch wenn Baden-Württemberg derzeit keinen Datenschutzbeauftragten hat, arbeiten die Mitarbeiter in der Behörde weiter.
Nun hat eine Mitarbeiterin angeordnet, dass ich bei WEN WÄHLEN? den Name, die Parteizugehörigkeit und weitere Angaben über die Kandidatur eines Kandidaten der Linkspartei zum Deutschen Bundestag 2009 löschen muss (Beispiele für solche Kandidatenseiten aus dem 2009er Archiv: hier, hier, hier, hier und viele hier). Ich habe dieser Anordnung widersprochen und die Informationen nicht gelöscht, da ich der Ansicht bin, dass diese Anordnung rechtswidrig ist, gegen Artikel 5 des Grundgesetzes verstößt und auch nicht mit dem geltenden Datenschutzrecht in Einklang zu bringen ist. Die Löschung würde Informationen zum Zeitgeschehen unwiederbringlich vernichten.
In ihrer Anordnung schreibt die Mitarbeiterin, dass sämtliche Informationen über den Kandidaten zu löschen sind:
Wir ordnen daher an, auf www.wen-waehlen.de/btw09/kandidaten/aktuell.html?seite=4 den Vor- und Zunamen, die Parteizugehörigkeit, die Angabe der Landesliste und des Listenplatzes sowie das Foto des Beschwerdeführers zu löschen.
Wir ordnen fernen (sic!) an, das Wahlprofil des Beschwerdeführers auf www.wen-waehlen.de/btw09/kandidaten/christian-hXXXXXX_14XXX.html zu löschen.
Demnach soll also nicht nur der Name des Kandidaten nicht mehr angezeigt werden, sondern sogar die Information gelöscht werden, dass überhaupt ein Kandidat der Linkspartei kandidiert hat. Ebenso sollen alle seine Antworten und weiteren Angaben gelöscht werden. Unter dem Strich würde das bedeuten, dass aufgrund des Datenschutzes weite Teile des Archivs gelöscht werden müssten, da die Rechtsgrundlage, auf die sich die Mitarbeiterin beruft, unabhängig von einem Antrag der Betroffenen ist. Zahlreiche Informationen zum Zeitgeschehen würden unwiederbringlich vernichtet, wenn sich diese Rechtsauffassung durchsetzt.
Die Lösch-Anordnung der Behörde widerspricht dabei einer Gerichtsentscheidung des Amtsgerichts Hamburg in einem ähnlichen Fall eines ehemaligen AfD-Politikers, bei dem das Gericht eine Löschung abgelehnt hat.
Ich habe die Lösch-Anordnung nicht umgesetzt und ihr widersprochen, denn m.E. beachtet die Mitarbeiterin des Landesdatenschutzbeauftragten nicht ausreichend die Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit aus Artikel 5 des Grundgesetzes und ignoriert §41 des Bundesdatenschutzgesetzes, der ein Medienprivileg für die Berichterstattung enthält. Aus dem Widerspruch:
Einleitend möchte ich darauf hinweisen, dass bei einer Löschung anhand von § 35 Abs. 2 Nr. 4 BDSG, wie sie von Ihnen angeordnet wurde, der Betrieb einer Plattform wie WEN WÄHLEN? mit Archiv nicht sinnvoll möglich ist und letztendlich auf eine Löschung aller Angaben zu vergangenen Wahlen hinausläuft. Sie fordern damit quasi die Einstellung des Dienstes, ohne auch nur mit einem Satz eine Abwägung mit Art. 5 GG durchzuführen. Eine solche Holzhammermethode konterkariert die grundsätzlich wünschenswerte Akzeptanz eines hohen Datenschutz-Niveaus.
Es geht hier nicht darum, massenweise private Daten zu sammeln und in die Öffentlichkeit zu zerren oder Kandidaten an den Pranger zu stellen. Im Gegenteil: WEN WÄHLEN? legt sehr viel Wert auf Datenschutz und speichert beispielsweise keine personenbeziehbaren Daten von den Nutzern. Beim normalen Aufruf einer Seite werden im Gegensatz zu anderen Plattformen keine Cookies oder sonstige Tracking-Informationen gesetzt/gespeichert, bei der Durchführung des Kandidatenvergleichs haben die Nutzer die Wahl, ob der Cookie zur Zwischenspeicherung der Eingaben nur für die aktuelle Sitzung oder einige Wochen gesetzt werden soll. Insgesamt ist WEN WÄHLEN? sehr datenschutzfreundlich gestaltet und beachtet die Privatsphäre der Nutzer – aber ohne die Auflistung der Kandidaten kann es eben auch nicht funktionieren. Im Sinne einer lebendigen Demokratie ist es unerlässlich, breit und offen über politische Inhalte zu diskutieren.
A. Abwägung der Grundrechte
Entgegen Ihrer Rechtsauffassung halte ich die Veröffentlichung der wahren Tatsachenbehauptung, dass der Beschwerdeführer 2009 für den Deutschen Bundestag kandidiert und welche politischen Positionen er bei seiner Kandidatur geäußert hat, für rechtmäßig. Dies ergibt sich auch aus § 41 Abs. 1 BDSG in Verbindung mit § 12 LPResseG BW und § 57 RStV. Ein Verbot würde die Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 GG über Gebühr einschränken. So hat auch das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich entschieden, dass wahre Tatsachenbehauptungen über Vorgänge aus der Sozialsphäre grundsätzlich hinzunehmen sind, wenn kein Persönlichkeitsschaden zu befürchten ist, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht. Auch das Bundesdatenschutzgesetz muss im Sinne des Grundgesetzes ausgelegt werden.
[…]
Weder der Beschwerdeführer noch Sie haben ein schutzwürdiges Interesse geltend gemacht, nach dem alle oder einzelne Angaben gelöscht werden müssten bzw. nach der das Recht, die Information nach sieben Jahren weiterhin zu veröffentlichen, verwirkt sei. Nach Spindler/Schuster/Nink reicht „allein die Bejahung eines schutzwürdigen Interesses jedoch nicht aus, um die Daten des Betroffenen aus den Vorgängen auszuklammern, vielmehr bedarf es zusätzlich einer Abwägung zwischen den Interessen der erhebenden Stelle und den Interessen des Betroffenen.“ Der Beschwerdeführer hat nicht dargelegt, dass er des Schutzes bedarf und dass schutzwürdige Belange beeinträchtigt sind. Dies ist aber auch nach der „Spick-mich“-Entscheidung des BGH eine Voraussetzung für die Löschung. Eine Kandidatur zum Deutschen Bundestag ist nicht ehrenrührig. Es handelt sich dabei nicht um eine Jugendsünde oder eine Kleinigkeit wie die Mitgliedschaft in einem Dorf-Verein einer nicht in der Öffentlichkeit stehenden Person. Ob beispielsweise die Kandidatur auf einem aussichtslosen Listenplatz bei einer Kommunalwahl einer anderen Bewertung unterliegen könnte, ist hier irrelevant.
[…]
Die von mir aufgeführten Zwecke wie die Berichterstattung über das Zeitgeschehen sind journalistisch-redaktionelle oder literarische Zwecke im Sinne von § 41 BDSG. Es handelt sich bei WEN WÄHLEN? – anders als bei der „Spick-mich“-Entscheidung – nicht nur um eine bloße Auflistung von abgegebenen Bewertungen, sondern die „meinungsbildende Wirkung für die Allgemeinheit“ ist „prägender Bestandteil des Angebots und nicht nur schmückendes Beiwerk“. Die Meinungsbildung entfällt nicht mit Abschluss der Wahl. So hat der Beschwerdeführer die Frage, ob der Atomausstieg rückgängig gemacht werden soll mit „Die Frage nach dem Umgang mit Atommüll ist immer noch ungelöst. So ist die Technologie zu gefährlich und wir hinterlassen unseren Kindern einen strahlenden Nachlass.“ beantwortet. Diese Aussage ist ein Beitrag zur politischen Meinungsbildung, der nach der Wahl nicht an Wert verliert.
Der Fall ist zudem auch vor dem Lichte der weiteren politischen Aktivitäten des Beschwerdeführers zu betrachten, auf die ich bereits in meinem ersten Schreiben hingewiesen habe. Denn es ist mitnichten so, dass er seit der Wahl nicht mehr politisch aktiv ist. Ergänzend dazu ist seine Kandidatur für die Partei DIE LINKE auch vor dem Hintergrund relevant, dass er am 14. April 2016 in einer Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages kontroverse Aussagen getätigt hat, die von anderen Zeugen anders dargestellt wurden. Ein umfassendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit über die unstrittige und nicht nur geringfügige politische Aktivität des Beschwerdeführers ist auch daher höher zu bewerten als dessen (nicht näher erläutertes) Interesse, seine Kandidatur zum Bundestag zu verschweigen.
Der Beschwerdeführer ist in der Zwischenzeit Professor für IT-Sicherheit und digitale Forensik an der Hochschule Mittweida. Als Person des öffentlichen Lebens sind seine politischen Aktivitäten auch vor diesem Hintergrund relevant – zumal es sich nicht um einen Online-Pranger oder eine sonstige Darstellung mit Prangerwirkung handelt, sondern die sachliche Darstellung eines legitimen und begrüßenswerten politischen Engagements.
(alle Fußnoten und Quellenangaben sind im PDF enthalten)
WEN WÄHLEN? führt seit 2005 alle Kandidaten zum Bundestag auf, gibt ihnen die Möglichkeit ihre politischen Meinungen darzustellen und bietet den Wählern die Möglichkeit, ähnlich wie beim Wahl-O-Mat die Parteien die einzelnen Kandidaten im Wahlkreis miteinander zu vergleichen. Zahlreiche Statistiken zeigen, wie sich die Kandidaten und Parteien positionieren, beispielsweise beim Mindestlohn oder der Wichtigkeit von Offenheit und Toleranz. In alle diese Auswertungen fließen die Antworten der Kandidaten ein, und eine Löschung würde auch diese verändern. WEN WÄHLEN? wurde 2013 in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Universität Mannheim gestaltet, auch spezielle Auswertungen wie die Absolut unverbindlichen Koalitionsempfehlungen oder die extremsten Kandidaten und die durchschnittlichsten Kandidaten wurden durchgeführt.
Dokumente und Links:
- Die Anordnung des Landesdatenschutzbeauftragten: Anordnung-LfD-BW-2016-07-26-anon.pdf
- Widerspruch gegen die Anordnung: Antwort-an-LfD-BW--2016-08-15--P-3606-266--anon.pdf
- Ergänzendes Schreiben an den LfDI BW (Juli 2016): Antwort-an-LfD-BW--2016-07-17--P-3606-266--anon.pdf
- Meine erste Antwort an den LfDI in dieser Sache: Datenschutz darf nicht zu Geschichtsfälschung führen!
- Entscheidung vom AG Hamburg: Gericht: Nennung eines Ex-Bundestagskandidaten der AfD ist rechtmäßig
Updates:
Datum der Zeugenaussage im Bundestag korrigiert (14. statt 16. April).
Info-Kasten ergänzt.
Verfahren ist eingestellt.
Lutz Donnerhacke
Halte durch. Das darf man sich nicht bieten lassen.
Holger Jakobs
So etwas von falsch verstandenem Datenschutz durch eine Datenschutzbehörde! Sie scheint wirklich kopflos zu sein.
Roland Lichti
Ich stimme Dir grundsätzlich zu. Allerdings möchte ich zu bedenken geben, dass es schon Ängste geben kann, dass eine Datenbank wie Du sie hast bei einem Regimewechsel mißbraucht werden kann. Und wie man an der Türkei sieht, ist der Weg in eine Diktatur leider nicht so unmöglich, wie wir es uns immer gedacht haben.
Unter diesem Gesichtspunkt kann ich sehr wohl erkennen, dass ein linker Mensch in diesem Fall ein Löschungsbedürfnis hat, da es dann lebensbedrohlichen werden kann (die einfache Kandidatur kann noch als "mitlaufen" verargumentiert werden, detaillierte Statements nicht mehr).
Wie gesagt, ich halte die Löschanordnung für übertrieben, aber das Ansinnen für nachvollziehbar.
xwolf
Vielen Dank für deinen Einsatz, Alvar und dafür, daß du nicht klein beigibst.
Leider zeigt sich hier -wie auch in anderen Fällen-, dass der Datenschutz in Deutschland in vielen Fällen ein falsches Konzept hat, wie es die Ziele errreichen soll: Die bloße Verhinderung oder Vernichtung erscheint allzu oft als leichter Ausweg um die Aufgaben zu erfüllen.
Wir alle wissen jedoch, daß der Verbot oder die Einschränkung von Wissen für die Allgemeinheit zu einem Machtmissbrauch führen kann. Der Gesellschaft wird ein wichtiger Kontext genommen und diejenigen, die über das relevante Wissen verfügen, können es bei Bedarf nutzen.
Im Endeffekt macht sich hier folglich der Datenschutz zum Handlager von Menschen oder Einrichtungen, die über "Herrschaftswissen" verfügen und diesen bei Bedarf nutzen können.
Viele Gerichtsurteile in der Vergangenheit belegen eindrucksvoll, dass behördliche Datenschützer, aber auch Datenschutzbehörden auf den Holzweg waren. Dennoch bleiben diese stur und uneinsichtig auf diesem Weg und bei dem Konzept des "Datenschutzes durch Datenvermeidung".
Durch die Möglichkeit Bußgelder in nicht unerheblicher Höhe anzuordnen, aber auch durch die Stellung der Datenschützer -als Ordnungsbehörde oder auch als betrieblicher, quasi unkündbarer Datenschützer- ist es ihnen leicht Druck auszuüben. Oft wird der Datenschützer auch als Instanz gesehen, welche per se bei diesem Thema im Recht ist...
Es gibt daher nur wenige, die es wagen Widerspruch zu geben. Auch dann wenn das was ein Datenschützer in einer Sache mal von sich gibt, ganz offensichtlich falsch ist.
Um so mehr nochmal: Vielen Dank dir Alvar.
budichorg hat auf den Kommentar von Roland Lichti geantwortet